Reisebericht Israel - "In einer anderen Zeit"


Tag 8

Sein Grab bleibt leer

An diesem Osterfest ist die Kirche über dem Grab Jesu leerer als sonst. Das ist auch eine Folge des 7. Oktobers. Touristen und Pilger trauen sich im Krieg nicht nach Jerusalem. Ich kann deswegen, ohne anzustehen in das leere Grab gehen, das von einer kleinen Kapelle und darüber einer großen Kuppel beschützt wird. Die Freunde Jesu haben ihren Lehrer hier nicht mehr gefunden. Sein Grab war leer und verlassen. Es sah wahrscheinlich so aus wie auf dem Foto, das ich zehn Meter weiter aufnehmen konnte. Diese in den Felsen geschlagene Höhlen hat man gefunden und so belassen, nicht überbaut mit Altären oder Kuppeln.

Heute klingt meine Reise aus. Der Palmsonntag eröffnet die "semana santa", die Heilige oder Hohe Woche. Die Gespräche mit den Überlebenden des Massakers ließen mich die Tiefe des Leids, die Heftigkeit der Erschütterung spüren. Sie verdeutlichen den unendlich großen Schmerz und den lähmenden Schatten, den diese Erfahrung für jeden weiteren Lebenstag bedeutet. Es wird nie vorbei sein. Mich hat beeindruckt, dass Menschen sich bedankten, dass wir gerade jetzt nach Israel kommen und ihnen zuhörten. Sie sahen darin ein Zeichen, dass uns ihr Schicksal berührt. Und ich bewundere Gesprächspartner, die alles verloren haben und trotzdem Fäden suchen und finden, die in eine gemeinsame Zukunft führen. Wie z.B. Rumi, die alte Friedensaktivistin aus dem Kibbuz an der Nordgrenze von Gaza, die sagt: "Pro Israel - pro Gaza - pro Frieden. Es gibt keinen anderen Weg." Verdrängen wir in dieser Heiligen Wochen deshalb nicht das Leiden, das es vielgesichtig gibt in unserer Zeit, halten wir es aus und nähern uns behutsam dem Wunder von Ostern mit seiner Botschaft, dass nichts bleiben muss, wie es ist.

Leere macht auch Platz für Hoffnung.


Tag 7

"Glücklich der Mensch, der in diesen Zeiten eine Bibliothek hat."

Das jedenfalls ist die Meinung von Mark, einem Mitarbeiter der neuen Nationalbibliothek in Jerusalem. Dieser freundliche Mann mit dem reinen britischen Akzent ist begeistert von dem Neubau zwischen israelischem Parlament und dem traditionsreichen Herzl-Berg. Der vom Schweizer Stararchitekten-Büro Herzog und Meuron geplante Bau ist bis ins kleinste Detail durchgeplant. Und das wirkt. Als Form erinnert das mit einer Fläche von 46.000 Quadratmetern nicht gerade kleine Gebäude an ein aufgeschlagenes Buch. Die Fassade lässt eindeutig Parallelen zur Westmauer erkennen, spielt mit den Lücken und Ritzen, die Zeit, Wind und Wetter an der Tempelmauer hinterlassen haben und nimmt sie auf.

Das Haus der Bücher beherbergt fast vier Millionen Exemplare, auch digitale Werke. Alles verteilt sich auf fünf unterirdische und sechs oberirdische Stockwerke. Herzstück ist der zentrale Lesesaal, in dem 600 Leute gleichzeitig lesen können und 200.000 Bücher sofort zugänglich sind. Die anderen Wünsche kann man bestellen und erhält sie in etwa 40 Minuten an der Ausleihe. Roboter holen die Bestellung aus dem Lager, das durch Sauerstoffreduzierung nicht entflammbar ist.

Hier ist ein Ort entstanden, der Ruhe gibt und einlädt, den Dingen und Fragen auf den Grund zu gehen. Neben Toiletten, Café, Vortragsraum ist auch daran gedacht, das Gläubige beten können. Deshalb befindet sich auf einer Ebene eine Synagoge, ausgerichtet zum Tempel und daneben eine Gebetsraum für Muslime, die nach Mekka zeigt. Für Christen wird die Gebetsnische mit einer Schiebetür verdeckt und fertig ist die kleine Kirche. Typisch israelisch ist, dass die Bibliothek in Betrieb ist, obwohl die offizielle Eröffnungsfeier wg. der Ereignisse am 7. Oktober noch nicht stattfinden konnte.

Marks Büchertipp ist übrigens "the beerkeeper from aleppo" von Christy Lefteri, eine Liebesgeschichte, die den schwierigen Weg nachzeichnet aus dem Syrischen Krieg nach England.


Tag 6

"Ich höre keine Musik mehr"

Dieser Satz von Ester Breuer ist mir noch im Kopf, als ich mich in Jerusalem auf den Weg zu ihr mache. Das hatte sie mir zuhause am Telefon gesagt und auch, dass wir uns nicht wie früher zu belgischen Waffeln treffen, sondern bei Ihr zuhause zum Mittagessen. Lange haben wir uns nicht gesehen, den Kontakt gehalten.

Gestern feierte sie den 93. Geburtstag. Wir kennen uns seit der zweiten Jugendreise unserer Gemeinde, aus 2018, verstanden uns gut. Sie liebte die jungen Menschen, die jungen Menschen sie. Ester hat Kartoffelsuppe vorbereitet. Wir reden, als hätten wir uns kürzlich erst getroffen. Das ist großes Glück! Sie ist hellwach, erzählt wie immer gern Witze, hat aber wenig Appetit, sagt: "Manchmal sitze ich abends und weine nur. Es ist Krieg. Wir haben Weltkrieg in Israel." Sie denkt an die Opfer des Konflikts und an ihre Urenkel, die Soldaten sind, wie viele junge Leute, fügt hinzu: "Die Soldaten geben ihre Handys ab vor dem Einsatz. Dann hörst Du erst mal nichts mehr von Ihnen."

An der Wand entdecke ich einen Brief von Angela Merkel. Die ehemalige Bundeskanzlerin dankt für ihre Tagebuchaufzeichnungen als junges Mädchen in Tel Aviv aus den Jahren 1946-1948, die auf Deutsch erschienen sind. Direkt nach der Staatsgründung gab es den ersten Krieg. Wie kann es weitergehen, fragen wir.

Auf dem Tisch liegen Zigaretten. Sie sieht meinen fragenden Blick und antwortet "Ja, ich musste wieder anfangen. Der Krieg, Du weißt schon."


Tag 5

Kein Paradies

Der Kibbuz Engedi ist ein Paradies. Seine Bewohner betreiben deshalb ein Hotel mit Pool und einmaliger Aussicht am Toten Meer.

Für die Überlebenden des Massakers aus dem Kibbuz Holit ist En Gedi kein Paradies. Sie haben die Hölle hinter sich und man bringt sie hierher in Sicherheit, alle zusammen. Denn am 7. Oktober wurden sie von Terroristen der Hamas überfallen. Seitdem leben die Überlebenden samt ihren Kindern und Hunden im Hotel.

Uns empfangen drei von ihnen in einem selbst eingerichteten Raum, der eine Mischung aus Kneipe und Kulturzentrum ist, insgesamt eher dunkel, die Wände bemalt, mit vielen Sitzmöglichkeiten und einer Bar an der Seite. Eine der Frauen erzählt: "Beim Alarm hole ich unten noch schnell meine Zigaretten und sehe am Nachbarhaus Terroristen mit Waffen." Die Zigaretten haben sie gerettet. Denn sie dirigiert ihren Mann und die zwei Kinder sofort auf den Dachboden des Hauses, verschließt die Luke. Draußen hören sie Schüsse und Schreie, Geräusche im Haus. Sie geben keinen Laut ab, 11 Stunden lang, dann werden sie befreit.

15 Menschen sind inzwischen ermordet, sechs gekidnapped, alle Häuser verwüstet. Wie kann man weiterleben nach dieser Katastrophe? Wir merken, wie unendlich schwer, fast unmöglich das Leben geworden ist und erst mal bleiben wird.

Eine von uns fragt, worauf sie sich vielleicht in der Zukunft freuen kann. Unsere Gesprächspartnerin antwortet: "Ich koche gern und will endlich wieder für meine Familie kochen, zuhause!"


Tag 4

An der Grenze

Das hatte ich nicht erwartet. Wir können ganz nah an den Grenzzaun gehen. Auf der anderen Seite ist Gaza. Auf der anderen Seite ist Krieg. Wir treffen uns im Garten ihres Hauses. Immer wieder sind Donnerschläge aus der Ferne zu hören. Nur noch wenige der schönen Häuser sind bewohnt.

Rumi, die in ein paar Tagen ihren 80. Geburtstag feiert, freut sich, dass wir kommen. Am 7. Oktober ist sie zu Hause, begibt sich wie geübt beim Alarm direkt in den Schutzraum und ruft ihre Tochter im Nachbarhaus an. Die flüstert und stottert ins Telefon "Hier sind Terroristen, die schießen. Ich habe mich mit den Kindern in einem Schrank versteckt." Später weiß man mehr. Drei Terroristen sind mit Paraglidern in den Kibbuz eingeflogen und löschen am Ende 20 Menschenleben aus. Rumis Tochter und die Kinder überleben.

Wie kann man jetzt leben? "Wir müssen," sagt die weise Frau mit bewegter Stimme, "wir müssen weitermachen, müssen in diesem Land zusammenleben, es versuchen. Denn unsere Kinder brauchen eine Zukunft, die anders ist als heute."

 Noch kann sie nicht zurück nach Hause, aber sie will wiederkommen, auch wenn es nie wieder so wird, wie es war.


Tag 3

Es schüttet. Regen in Jerusalem.

Weint der Himmel über den „Krieg/the war“, wie das Massaker und seine Folgen hier genannt werden?

Erstes Gespräch am Morgen mit zwei unterschiedlichen Männer, die in der NGO „roots“ sich für die Verständigung von Juden und Palästinensern einsetzen. Saul begrüßt uns unter einem provisorischen Holzdach, das den Regen abhält.

Wann hört der Regen auf? Wann der Krieg? Saul kommt aus Amerika. Er erzählt, dass in seinem Kopf immer der Gedanke aufgehoben war, als Jude kann ich von überall in der Welt nach Israel kommen. Wenn es mir zu gefährlich wird, nehme ich ein Ticket, fliege heim und bin sicher. Stimmt das noch nach dem 10. Oktober?

Chalid kommt von draußen, Saul geht. Chalid spricht langsam, wählt die englischen Worte genau. Man spürt, wie tief ihn das Thema bewegt. Er redet frei, sein Atem geht immer wieder schwer. Seine Familie hat gegen Israel gekämpft, seine Mutter hat sechs, er zwei Jahre deswegen im Gefängnis gesessen. Aber was ihn nicht loslässt ist der Tod seines Bruders, den ein israelischer Soldat ohne Grund, wie er sagt, erschossen hat. Über 1000 Palästinenser nahmen an der Beerdigung teil.

Und kurz danach kam eine israelische Familie zu ihm nach Hause, deren Sohn von der Hamas getötet worden war. Er sah ihre Tränen. Das hatte er nicht erwartet. Wörtlich sagte er „Unsere bisherigen Positionen und Selbstbeschreibungen flogen zum Fenster raus, wir waren nur noch Menschen, einander nah im Schmerz.“

Das Erlebnis hat seine Perspektive verändert. Beide Seiten müssen gehört werden. Liebe und Respekt sind die Schlüssel, und beiden Seiten gehören zu dem einen Heiligen Land.“ Und morgen erwartet uns wahrscheinlich der schwerste Tag der Reise. Wir besuchen Richtung Gaza eines der überfallenen Kibbuze und treffen eine Bewohnerin.

Was werden wir hören?


Tag 2

Jasmin ist Schweizerin.

Die Liebe zu den Pflanzen hat sie vor 21 Jahren nach Israel geführt, die Liebe zu ihrem Mann, Musa ließ sie wiederkommen. Sie konvertierte zum Islam und berichtet eindrücklich, wie groß die Angst nach dem 7. Oktober jetzt ist.

Und sie hat Hoffnung, weil die Vielfalt für sie Reichtum ist im Land und Toleranz eine Aufgabe für alle. Deshalb lädt sie so viele Leute wie möglich zu sich ein und bemüht sich um Freundschaften und Veränderung mit den verschiedensten Gruppen in der israelischen Gesellschaft.


Tag 1

"In einer anderen Zeit"

Gelandet. Das schon.

Der Flughafen von Tel Aviv sieht aus wie immer. Viele Leute, lange Wege und Sicherheitskontrollen. Routine!

Aber Israel ist nicht mehr das Land, das ich kenne, als ich es im letzten Sommer nach einer inspirierenden Reise mit Schüler:innen aus Hilden und Ratingen verlassen habe. Wir leben nach dem 7. Oktober 2023 in einer neuen Zeit.

130 Israelis sind weiter in Geiselhaft oder tot, unfassbares Leid auf allen Seiten …

Unsere Partner haben eingeladen, gerade jetzt, mitten im Krieg nach Israel zu kommen, Menschen zu sprechen und gemeinsam zu suchen, was Hoffnung stiftet.

Kann das gelingen?

Hier können Sie den Stationen der Reise bis Palmsonntag folgen.

Pastor Thomas Gerhold, Tel Aviv, 17. März 2024